Mittwoch, 15. November, 20:13 Uhr, der Wetterbericht. Morgen wird's sonnig, den ganzen Tag. Ein herrlicher Herbsttag erwartet uns. Nur zwei Dinge stimmen mich traurig. Es wird sehr windig mit starken Böen und es ist ein Donnerstag. Auf dem Bürotisch türmt sich die Arbeit. Ein kurzer Blick nach draußen. Kein Blatt bewegt sich. Sollte das morgen früh auch so sein? Ich krame einen lange gehegten und immer wieder verdrängten Wunsch hervor: Drachenfliegen bei Sonnenaufgang.
Ich stelle mir den Wecker auf 5:30 Uhr, denn 7:00 Uhr wird's langsam hell. Da will ich am Strand sein. Bin ich verrückt? Andere liegen da noch im Bett und träumen was Schönes. Noch in Gedanken Backspins fliegend schlafe ich ein. Plötzlich schrecke ich auf. Was ist das denn mitten in der Nacht? Mein Wecker piept. Mich fragend, ob das eine so gute Idee war mit dem frühen Aufstehen, quäle ich mich hoch und schaue wieder raus. Sternenklarer Himmel, nur ein loses Blatt an der Birke vor unserem Haus taumelt im Wind. SUL-Wetter! Der Adrenalinspiegel steigt. Hellwach und dennoch apathisch vollführe ich die allmorgendlichen Prozeduren, schlinge mein Müsli rein, spüle mit Tee nach. Man braucht ja Energie beim Trickfliegen.
Ich suche meine sieben Sachen zusammen, binde alles an mein Fahrrad und los geht's. In der S-Bahn nach Warnemünde ständig dieser unsichere Blick aus dem Fenster. Bewegt sich da ein Blatt? Ist genug Wind? Wird's zu windig? Werde ich die aufgehende Sonne sehen? Endlich in Warnemünde angekommen rase ich zum Strand, wohl wissend dass sich meine Wünsche erfüllen werden. Der Geruch von Seetang und Salzluft strömt in meine Nase. Kein Mensch am Strand. Nur eine kleine Gruppe von Nordic Walkern ist da. Etwas ungelenk führen sie anmutige Dehnungsübungen mit ihren Stöckern aus.
Total nervös baue ich meinen Merlin auf. So lange habe ich dafür doch noch nie gebraucht! Endlich starten. Die ersten Sonnenstrahlen streicheln die Schleierwolken am fernen Horizont. Herrlich orange von der aufgehenden Sonne angestrahlt, malt der Drachen seine Figuren in den stahlblauen Himmel. Was für ein Glücksgefühl! Ein breites Lächeln zieht sich über mein Gesicht. Gänsehaut am ganzen Körper.
Doch was ist das? Kräftige Böen reißen an den Leinen. Der Merlin ächzt. Oh nein, der Wind frischt auf. Traurig, packe ich ihn wieder ein und hole meine Jumping Jack Flash aus der Tasche. Der kann was ab. Wieder dauert das Aufbauen eine Ewigkeit. Jetzt aber los! Nun endlich die Belohnung für das frühe Aufstehen, die ungewohnten Strapazen und die morgendliche Kälte. Wie hypnotisiert zaubere ich spielend Flic-Flacs, Jacob's Ladders und Backspins in die Luft. Die Sonne steht schon etwas höher und wärmt meine Haut. Fasziniert vom malerischen Kontrast zwischen dem blauen Himmel und dem orange strahlenden Drachen scheint mir die Zeit wie im Fluge zur vergehen. Das ist Drachenfliegen!
Der Wind nimmt weiter zu. Ich packe ein. Beruhigt kann ich mein Tagwerk angehen. Auf dem Weg zum Büro klingen die Erinnerungen an dieses unvergessliche Erlebnis nach. Während meine Kollegen noch schlaftrunken und müde dreinschauend ihren Arbeitsplatz erreichen, bin ich überglücklich und weiß, dass ich das schönste Hobby der Welt habe.
Ronald